Schlüsselwörter
Psychische Erkrankungen - Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb - Betriebsärzte
- Entwicklung neuer Versorgungskonzepte - Versorgungsforschung
Key words
mental disorders - psychosomatic consultation in the workplace - occupational health
physicians - development of a new health-related service - health services research
Einleitung
Auf psychische Erkrankungen entfielen im Jahr 2012 14,5% der Arbeitsunfähigkeits(AU)-Tage
und 4,5% der AU-Fälle – bei durchschnittlich 33,2 Krankheitstagen pro Fall (DAK-Versicherte
[1]). Zugleich stellen sie aktuell mit 40% die häufigste Ursache für vorzeitigen Renten-Neuzugang
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit dar [2].
Beide Aspekte sind für Betriebe und Beschäftigte gleichermaßen bedeutsam. Entsprechend
widmen sich betriebliche Akteure zunehmend der Primär- und Sekundärprävention psychischer
Erkrankungen. Ansatzpunkte sind zum einen die betriebliche Sozialberatung bzw. psychosoziale
Beratung [3] einschließlich der betrieblichen Suchthilfe [4] sowie Supervision und Coaching [5] – jeweils in Abhängigkeit von Betriebsgröße und Branche. Zum anderen werden Arbeitsbedingungen
so gestaltet, dass psychische Fehlbelastungen möglichst vermieden werden – häufig
unter Federführung der Betriebsärzte und ggf. unter Einbindung arbeitspsychologischer
Expertise [6]. Dabei ist der betriebliche Gesundheitsschutz in großen Betrieben oft deutlich besser
ausgestaltet als in kleinen und mittleren Unternehmen.
Bei drohender oder bestehender psychischer bzw. psychosomatischer Erkrankung, d. h.
bei Sekundärprävention/Therapie, verweisen Betriebsärzte Beschäftigte – häufig vermittelt
über den Hausarzt – auf die Regelversorgung. Allerdings bestehen hier lange Wartezeiten
für ein Erstgespräch (aktuell: bis zu 2,2 Monate) bzw. den Beginn einer Psychotherapie
(aktuell: bis zu 4,8 Monate) [7], Zahlen nach: [8].
Vor diesem Hintergrund wurden von Betriebsärztinnen und Betriebsärzten in einigen
Unternehmen sogenannte „Psychosomatische Sprechstunden im Betrieb“ initiiert und in
Zusammenarbeit mit den kooperierenden Fachärzten für Psychosomatik bzw. Psychiatrie
oder psychologischen Psychotherapeuten ausgestaltet. Die Bezeichnung „Psychosomatische
Sprechstunde im Betrieb“ (PSIB) ist hierbei der bisher einzigen Publikation eines
entsprechenden Programms entlehnt [9] und wird nachfolgend als Überbegriff für Angebote in verschiedenen Firmen verwendet,
die dort jeweils unterschiedlich benannt und ausgestaltet sind. Bei allen Formen wird
den Beschäftigten bei psychosomatischen Beschwerden oder drohender bzw. bestehender
psych(osomat)ischer Erkrankung ermöglicht, auf Kosten des Betriebes Zugang zu einem
psychosomatisch spezialisierten Arzt oder psychologischen Psychotherapeuten zu erhalten.
Analog zum Modell der Konsiliarpsychosomatik in der stationären Versorgung [10] findet – bei Einwilligung des Beschäftigten – auch im Modell der PSIB teilweise
ein fachlicher Austausch zwischen den betreuenden Betriebsärzten und dem psychosomatischen
Kollegen statt. Im Rahmen der bislang auf wenige Betriebe beschränkten PSIB erfolgen
somit Angebote aus der kurativen Versorgung im betrieblichen Setting und ergänzen
die betriebsärztliche Betreuung.
Verschiedene Autoren haben Vorschläge zur Entwicklung und Evaluation neuer Versorgungsangebote
gemacht z. B. [11]. Im Hinblick auf die PSIB gilt es, deren Ausgestaltung zu beschreiben, um einen
Beitrag zur Modellbildung bzw. ggf. Modifikation erster Angebote auf dem Boden der
nachträglichen Theoriebildung zu leisten. Dies ist Ziel der vorliegenden Studie.
Methode
Da zum Zeitpunkt der Studie jenseits einer ersten Darstellung zur PSIB [9] keine empirischen Daten vorlagen, wurde ein exploratives Forschungsdesign unter
Verwendung qualitativer Methoden der empirischen Sozialforschung gewählt und Einzelinterviews
sowie Fokusgruppendiskussionen mit „Experten“ durchgeführt. Fokusgruppen (FG) sind
als Forschungsmethodik v. a. zur Datenerfassung in beruflichen Gruppen etabliert.
Die Gruppendiskussion regt die Teilnehmenden an, sich vertieft mit Themen auseinanderzusetzen
[12]. Der Expertenbegriff folgt Meuser et al. [13] und fokussiert die Kombination aus spezifischem Wissen und Einbindung in Problemlösungsprozesse.
Als Experten wurden neben Betriebsärzten (in Fokusgruppen) Vertreter innerbetrieblicher
Beratungsdienste, Personalabteilungen, Betriebskrankenkassen und Personalvertretungen
(in Einzelinterviews (EI)) angesprochen.
Studienpopulation
Planungsgemäß wurden 2 FG realisiert: in einer wurden Betriebsärzte mit PSIB-Erfahrung,
in der anderen Betriebsärzte ohne entsprechenden Hintergrund interviewt. Auch bei
den EIs wurde eine strukturelle Variation [14] durch die Differenzierung „mit PSIB-Erfahrung“ – „ohne PSIB-Erfahrung“ sowie die
Kategorie „großes Unternehmen“ – „kleines/mittleres Unternehmen“ und die Abbildung
verschiedener Berufsgruppen erreicht. Experten ohne Erfahrung mit dem Angebot wurden
in die Studie eingeschlossen, da die Ausgangsproblematik der psych(osomat)ischen Erkrankungen
angebotsunabhängig ist. Zudem wurden so potenziell betroffene Betriebe inkludiert.
Das Studiensample ist in [Tab. 1] dargestellt. Die PSIB-erfahrenen Betriebsärzte waren aufgrund der begrenzten Anzahl
von Unternehmen, die zum Zeitpunkt der Studie eine PSIB in Südwestdeutschland anboten,
leicht zu identifizieren: 5 der 7 in Frage kommenden Betriebsärzte nahmen an der FG
teil, einer an einem EI, einer sagte aus Zeitgründen ab. Die Betriebsärzte ohne PSIB-Erfahrung
wurden über die (Lehr-)Kooperationen des Instituts für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin
und Versorgungsforschung Tübingen rekrutiert (Teilnahmequote Fokusgruppe 5/6; 1 Absage
aus Zeitgründen). Die weiteren betrieblichen Ansprechpartner für die EI wurden mithilfe
der interviewten Betriebsärzte gewonnen (Teilnahmequote 8/8).
Tab. 1 Zusammensetzung der Studienpopulation (Kursiv: Kürzel der Interviews).
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Erfahrung mit Angebot
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Keine Erfahrung mit Angebot
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Betriebsärzte
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– 5 Betriebsärzte aus verschiedenen großen Unternehmen der Metall- und Elektro- bzw.
Automobilindustrie (ca. 2 500 bis>15 000 Beschäftigte am jeweiligen Standort) (FG_AMM-01)*
– 1 Metall- und Elektroindustrie (ca 10 500 Beschäftigte) (EM-02)
|
– 3 freiberufliche Betriebsärzte, betreuen mehrere Unternehmen (jeweils≤ca. 500–1 000
Beschäftigte) – 1 Betriebarzt, überbetrieblicher Dienst, betreut ein Unternehmen der Medizintechnik
(ca. 3 000 Beschäftigte) – 1 Betriebsarzt, überbetrieblicher Dienst, betreut mehrere Unternehmen (jeweils≤1 000
Beschäftigte) (FG_AMO-01)
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Personalvertretung
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–
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1 Krankenhaus der Maximalversorgung (ca. 9.000 Beschäftigte) (EO-03)
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Betriebskrankenkasse
|
–
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1 Medizintechnik (ca. 3 200 Beschäftigte) (EO-02)
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Betriebliche Sozialberatung/Psychosoziale Beratung
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– 1 Metall- und Elektroindustrie (ca 10 500 Beschäftigte) (EM-03), – 1 Automobilindustrie, (> 15 000 Beschäftigte) (EM-01)
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1 tätig für einen großen überbetrieblichen arbeitsmedizinischen Dienst, d. h. viele
auch kleine und mittelgroße Betriebe (EO-05)
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Personalabteilung
|
–
|
2 Metall- und Elektroindustrie (ca. 3.000 und ca. 9000 Beschäftigte) (EO-01, EO-04)
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*FG=Fokusgruppendiskussion, AMM=Arbeitsmediziner mit Erfahrung, AMO=Arbeitsmediziner
ohne Erfahrung, EM=Interview Experte mit Erfahrung, EO=Interview Experte ohne Erfahrung,
Zahlen=Reihenfolge der Erhebung
Durchführung
Die FGs wurden im Herbst 2011 durchgeführt (Dauer 94 und 102 min). Die EIs wurden
mit einer Ausnahme telefonisch geführt (Dauer 19–34, im Mittel 26 min). Alle Interviews
wurden digital aufgezeichnet, die FG zusätzlich videodokumentiert (Löschung nach Zuordnung
der Sprecher zu den Interviewpassagen). Die Interviews der Experten ohne PSIB-Erfahrung
(EI und FG) erfolgten zeitlich nach der FG der Betriebsärzte mit PSIB-Erfahrung. Aus
letzterem wurden als Prototypen 2 kontrastierte PSIB-Beispiele abgeleitet ([Tab. 3]), den Experten ohne Erfahrung vorgestellt und ihre Haltungen dazu erfragt. Die Prototypen
dienten somit als in Fokusgruppendiskussionen üblicher Diskussionsimpuls [12].
Tab. 2 Gestaltungsformen der Psychosomatischen Sprechstunde im Betrieb – Kategorien und
Zitatbeispiele.
Hauptkategorie
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Unterkategorie
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Zitatbeispiel
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„Innerbetriebliche Information über die Psychosomatische Sprechstunde“
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Zitat 1: Breite Information
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„(…) das war ganz wichtig (…), dass wirklich von der Unternehmungsleitung und vom
Betriebsrat das System mitgetragen wird und in die Landschaft getragen wird, also
klassisch wäre da eine Betriebsversammlung, wo beide Seiten das Thema in die Mannschaft
tragen und sagen, „das ist was Gutes für Sie, das ist, kann auch hilfreich sein und
wir unterstützen das von beiden Seiten.“ (FG_AMO-01, 132)
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Zitat 2: Begrenzte Information
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„… Wir wollen das nämlich auch nicht mit der Gießkanne ausgießen.“ (EM-02, 51)
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„Zugang bzw. Zuweisung zur Psychosomatischen Sprechstunde“
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Zitat 3: Breiter Zugang
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„Aber in den [kleineren] Betrieben sind die [Betriebsräte] in der Regel nicht so gut
qualifiziert, dass sie das zusortieren können. Also insofern würde ich eher dazu tendieren,
sollte der Betriebsarzt auf jeden Fall mit einbezogen werden, ob er da alleiniger
Zuweiser ist, Fragezeichen, aber er muss davon in Kenntnis gesetzt werden.“ (FG_AMO-01,
47)
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Zitat 4: Begrenzter Zugang/gezielte Zuweisung
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„Grundsätzlich finde ich die Idee nicht schlecht, sozusagen den Betriebsarzt da zum
Dreh- und Angelpunkt dieser Themen zu machen. Der Betriebsarzt ist sicherlich schon
jemand, der auch einen besseren Zugang nochmal hat, weil natürlich klar ist, dass
alles vertraulich bei ihm bleibt.“ (EO-04, 51)
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„Ort der Psychosomatischen Sprechstunde“
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Zitat 5: Betriebseigene Räumlichkeiten
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„Auch dass es im Betrieb stattfindet wird eher positiv gesehen, es ist in der Arbeitszeit,
was will man mehr, es gibt keine Anfahrtswege, also die Schwelle dort teilzunehmen
ist extrem gering (…).“ (FG_AMM-01, 48)
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Zitat 6: Räumlichkeiten des externen Konsiliars
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„Generell würde ich aber aufgrund der Vertraulichkeiten, auch aufgrund von Berührungspunkten…
eher einen externen Ort vorziehen wollen.“ (EO-01, 61)
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„Umfang der Behandlung“
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Zitat 7: Ein Termin
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„Was für mich ganz gut ist, ist dass ein Externer, der keinen Bezug zu dem Unternehmen
hat und auch keinen Bezug zu der Umgebung, in der derjenige [Mitarbeiter] arbeitet,
der sehr geschult ist von seiner Objektivität her, den Fall aus seiner Brille anschaut
und dann zum einen dem Mitarbeiter Hilfestellung gibt, wie kann es für ihn weitergehen,
(…) dass er [der Mitarbeiter] erkennt, es ist nicht nur die Umwelt, die mit ihm umgeht,
sondern er ist auch ein Akteur in der Umwelt und kann sich entsprechend verändern,
das sind dann so Fälle, wo oft der einmalige Termin dann auch reicht bei der Sprechstunde,
um tatsächlich eine Veränderung zu bewirken.“ (FG_AMM-01, 30)
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Zitat 8: Mehrere Termine
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„(…) wir haben mit dem einen Partner einen Deal, dass man maximal 5 Sitzungen bei
dem absolvieren kann und diese 5 Sitzungen werden in den seltensten Fällen in Anspruch
genommen. Nicht, weil es dem Mitarbeiter nicht weiterhilft, sondern weil er nach 2,
3 Sitzungen im Endeffekt sein Problem erkannt hat und auch Anleitung bekommen hat,
wie er es umsetzen kann.“ (EM-03, 82)
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„Bewertung und Reflexion“
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Zitat 9: Negative Bewertung
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„Die Psychosomatische Sprechstunde wird teilweise auch verwendet, um etwas in Anspruch
zu nehmen, was es schon gibt. Das heißt, wir haben hier eine Doppelstruktur. (…) Das
ist für den Mitarbeiter egal, Hauptsache er bekommt einen Termin. Allerdings ist der
dann [in der Psychosomatischen Sprechstunde] zeitlich meistens länger entfernt, als
der nächstmögliche Termin [in einer innerbetrieblichen Beratungsstelle]. [Durch die
Psychosomatische Sprechstunde] wird dann einfach eine vorhandene Struktur weniger
genutzt und dafür eine andere in Anspruch genommen.“ (EM-01, 103)
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Zitat 10: Positive Bewertung
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„Wenn Sie fragen, „Was könnte man verbessern?“, dann denke ich, wir haben eigentlich
mit dieser Psychosomatischen Sprechstunde, wie ich glaube, ein gutes Angebot.“ (FG_AMM-01,
68)
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EM – Einzelinterview Experte mit Erfahrung mit Psychosomatischer Sprechstunde (PS),
E0 – Einzelinterview Experte ohne Erfahrung mit PS, FG_AMM: Fokusgruppe Betriebsärzte
mit Erfahrung mit PS, FG_AM0 Fokusgruppe Betriebsärzte ohne Erfahrung mit PS; Arabische
Ziffern kennzeichnen die Pseudonymisierungsziffern der Interviewpartner sowie den
Abschnitt in der MAXQDA-Datei
Tab. 3 Ausprägungen der Gestaltungsaspekte der „Psychosomatischen Sprechstunde im Betrieb“.
Gestaltungsaspekt
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„Restriktive“ Ausprägung
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„Liberale“ Ausprägung
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Information
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Selektive Information über das Angebot in der betriebsärztlichen Sprechstunde
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Breite Information über das Angebot im Betrieb
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Zugang/Zuweiser
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Betriebsarzt als alleiniger „Zuweiser“
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Heterogene „Zuweiser“, Einbindung des Betriebsarztes während des Prozesses
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Ort
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Betriebsinterne Räumlichkeiten (i. d. R. Räumlichkeiten des betriebsärztlichen Dienstes)
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Räumlichkeiten des externen Konsiliar
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Umfang der Behandlung auf Kosten des Arbeitgebers
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ein Termin
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bis zu 5 Termine
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Auswertung
Die Daten wurden transkribiert, pseudonymisiert und im Anschluss zum Zwecke der kommunikativen
Validierung von 3 unabhängigen (neutralen) Personen ausgewertet. Die Auswertung erfolgte
deduktiv aus bereits vorhandenem Wissen und von den Leitfragen ausgehend sowie induktiv
– methodisch mittels zusammenfassender Inhaltsanalyse nach Mayring [15]. Hierbei wurde das in einem mehrstufigen Prozess entwickelte Kategoriensystem in
der Software MAXQDA erstellt, für alle Interviews verwendet und beim Aufkommen neuer
Aspekte erweitert. Eine inhaltliche Validierung erfolgte durch einen Workshop, zu
dem alle Interviewpartner sowie weitere Vertreter derselben Berufsgruppen, Vertreter
von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften und des zuständigen Landesministeriums
eingeladen waren. An diesem Workshop nahmen 26 Personen teil (Februar 2012).
Finanzierung und ethische Aspekte
Die Studie wurde gefördert durch das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie,
Frauen und Senioren Baden-Württemberg. Ein positives Votum der zuständigen Ethikkommission
lag vor. Alle Teilnehmenden wurden schriftlich aufgeklärt und gaben ihr Einverständnis.
Ergebnisse
Dieser Artikel greift aus den Studienergebnissen diejenigen zu möglichen Gestaltungsformen
der PSIB auf. Nachfolgend werden die Themen „Innerbetriebliche Information über die
Sprechstunde“, „Zugang bzw. Zuweisung“, „Ort der Sprechstunde“ und „Umfang der Behandlung“,
sowie allgemein die „Bewertung und Reflexion des Angebotes“ dargestellt. Zugunsten
einer möglichst unmittelbaren Wiedergabe der Interviewaussagen erfolgt die Darstellung
im Präsens, unter Verzicht auf den Konjunktiv und ohne inhaltliche Zusätze der Autorinnen.
Die jeweiligen Zitatpassagen finden sich unter der entsprechenden Nummerierung in
[Tab. 2].
Die Ergebnisse werden nicht nach „mit Erfahrung“ – „ohne Erfahrung“, sondern thematisch
geordnet, da Themen und deren Dimensionen in beiden Gruppen ähnlich zur Sprache kamen.
Kategorie „Innerbetriebliche Information über die Psychosomatische Sprechstunde“
Ein Teil der Befragten spricht sich dabei dafür aus, alle Beschäftigten über Existenz und Zweck der Psychosomatischen Sprechstunde zu unterrichten,
etwa in Betriebsversammlungen, wo Unternehmensleitung und Arbeitnehmervertreter gemeinsam
informieren können (Zitat 1). Andere Befragte bevorzugen, dass Betriebsärzte oder
andere Zuweisungsbefugte wie Mitarbeiter innerbetrieblicher Beratungsdienste einzelne Personen gezielt im persönlichen Gespräch informieren, um die differentielle Indikation
sicherzustellen (Zitat 2, vgl. auch nächster Abschnitt).
Kategorie „Zugang bzw. Zuweisung zur Psychosomatischen Sprechstunde“
Ein Teil der Befragten präferiert einen breiten Zugang zur PSIB, bei dem neben Betriebsärzten
andere Akteure, wie Betriebsräte oder Mitarbeitende der Personalabteilung Beschäftigte
der Sprechstunde zuweisen bzw. auf diese verweisen. Dies wird besonders für Unternehmen
vorgeschlagen, in denen der Betriebsarzt nur selten vor Ort ist. Betriebsärzte selbst
plädieren dafür, auch bei diesem breiten Zugang die Einbeziehung des Betriebsarztes
zu gewährleisten (Zitat 3). Manche Befragte sprechen sich für einen begrenzten Zugang
zur PSIB aus, bei dem allein der Betriebsarzt Beschäftigte zuweisen kann (Zitat 4).
Kategorie „Ort der Psychosomatischen Sprechstunde“
Der Ort der Psychosomatischen Sprechstunde ist unter mehreren Aspekten relevant. Wo
die Sprechstunde in betriebseigenen Räumlichkeiten stattfindet, wird sie als regelmäßiger
Blocktermin durchgeführt. Für betriebseigene Räumlichkeiten spricht aus der Sicht
der Befragten, dass die Sprechstunde innerhalb der Arbeitszeit und niederschwellig
stattfinden kann (Zitat 5). Befürchtungen hinsichtlich der Sicherstellung von Anonymität
wird in der Praxis begegnet, indem betriebsärztliche Räumlichkeiten genutzt werden,
sodass für Dritte nicht nachvollziehbar ist, wer die betriebsärztliche bzw. die Psychosomatische
Sprechstunde nutzt.
Andere Befragte bevorzugen die Räumlichkeiten des externen Konsiliars, weil dadurch
Termine individuell vereinbart werden können, wenngleich sich Wegstrecken negativ
auf die Inanspruchnahme auswirken könnten. Zugleich werden die Reflexion außerhalb
des betrieblichen Settings und der anonyme Zugang (Zitat 6) für förderlich gehalten.
In der Praxis finden sich beide Formen und werden von den Beteiligten als stimmig
erachtet.
Kategorie „Umfang der Behandlung“
Die Angebote unterscheiden sich auch hinsichtlich des Umfangs der (betrieblich finanzierten)
Behandlungszeit. Ein Teil der Betriebe übernimmt die Kosten für einen Termin, was
einige Befragte als ausreichend und wirkungsvoll erachten (Zitat 7). Sie sehen es
nicht als Aufgabe von Betrieben, Kassenleistungen zu übernehmen.
Andere Befragte bevorzugen ein Modell, in dem der Betrieb bis zu 5 Termine finanziert.
Dies ermöglicht eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Problematik und kann die
Wirkung der Sprechstunde positiv beeinflussen. Manche berichten, dass auch dort, wo
5 Gesprächstermine möglich sind, diese nicht immer ausgeschöpft werden (Zitat 8).
Kategorie „Bewertung und Reflexion der Psychosomatischen Sprechstunde“
Kritisch wird die PSIB dann beurteilt, wenn sie als Doppelstruktur wahrgenommen wird,
bei der der Betriebsarzt nicht eingebunden ist und der externe Kooperationspartner
als Ersatz für betriebsärztliche Angebote wahrgenommen wird (Zitat 9).
Insgesamt werden in den Interviews eine hohe Zufriedenheit bei den Experten „mit Erfahrung“
und eine hohes Interesse seitens der Experten ohne Erfahrung mit der PSIB deutlich
(Zitat 10).
Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse
Hinsichtlich der Gestaltung der Psychosomatischen Sprechstunde befassten sich die
Interviewten mit den Themen Information, Zugang, Ort und Umfang der konsiliarischen
Behandlung. Aus den bereits etablierten Angeboten und den geäußerten Präferenzen und
deren Begründungen lassen sich verschiedene Gestaltungsaspekte herausarbeiten ([Tab. 3]).
Modellhaft kann die PSIB eher „restriktiv“ gestaltet werden, indem es allein dem Betriebsarzt
vorbehalten ist, ausgewählte Beschäftigte darüber zu informieren und der Sprechstunde
zuzuweisen, diese vor Ort stattfindet und vom Arbeitgeber nur im Umfang von einem
Termin finanziert wird. Demgegenüber wird in einem durchgehend „liberalen“ Modell
das Angebot breit an alle Beschäftigte kommuniziert, es gibt verschiedene Zuweiser,
die Sprechstunde findet betriebsextern in Räumen des Konsiliars statt und wird im
Umfang von bis zu 5 Terminen vom Arbeitgeber finanziert. Zwischen diesen Polen sind
verschiedene andere Modelle denkbar – und finden sich auch in der Praxis ([Tab. 4]). Die befragten Betriebsärzte wünschen unabhängig von der Ausprägung der einzelnen
Gestaltungsaspekte eine starke Einbindung des Betriebsarztes innerhalb der PSIB. Bei
den anderen befragten Berufsgruppen sind die Präferenzen heterogen.
Tab. 4 Charakteristika der Psychosomatischen Sprechstunde in den 5 betrachteten Betrieben
# in Bezug auf die Gestaltungsaspekte „Information“, „Zugang“, „Ort der Sprechstunde“
und „Umfang der Behandlung“. (# Betriebe, deren Betriebsärzte an der Fokusgruppe FG_AMM-01 teilnahmen)
Betrieb
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Information
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Zugang
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Umfang der Behandung
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gezielt in der (betriebsärztlichen) Sprechstunde
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an alle Beschäftigte
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über Betriebsarzt
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mehrere Zuweisende
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1 Termin
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5 Termine
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A
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x
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x
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|
x
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|
B
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x*
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|
x
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x
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C
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x
|
|
x
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|
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x**
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D
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x
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|
x
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|
x
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E
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x
|
|
x
|
|
|
x
|
Ort der Sprechstunde: Betriebe A, D und E: Sprechstunde findet beim Konsiliar statt; Betriebe B und C:
Sprechstunde findet im Betrieb statt.
* Betrieb B: Sprechstunde des Betriebsarztes oder eines anderen innerbetrieblichen
Beratungsangebotes
** Betrieb C: Regelfall 1 Termin, bei Bedarf aber auch mehrere Termine möglich
Diskussion
Methodik der Studie – Limitationen
Einzel- und Fokusgruppeninterviews mit Experten erwiesen sich für die vorliegende
Studie als geeignete Erhebungsmethode zur Beschreibung des Angebots bzw. zur Erfassung
von Haltungen und Präferenzen zur „Psychosomatischen Sprechstunde im Betrieb“. Bei
der Rekrutierung konnte eine strukturelle Variation in Bezug auf Betriebsgröße, Branche,
Art der betriebsärztlichen Betreuung und Infrastruktur (Großstadt bis ländliche Gebiete)
erreicht werden. Die Bewertungen der PSIB zeugen von einer hohen Zufriedenheit, grundlegende
Kritik wurde kaum geäußert. Auch zeigten die interviewten Betriebsärzte ein hohes
Interesse an ihrer eigenen Einbindung in den Prozess der Psychosomatischen Sprechstunde.
Beide Aspekte könnten Hinweise auf einen möglichen Bias geben: Denkbar ist, dass bei
den Befragten „mit Erfahrung“ Personen interviewt wurden, die das Angebot initiiert
haben und deshalb Kritik und Zweifel seltener thematisierten. Gleichzeitig könnten
durch eine Rekrutierung der Betriebsärzte „ohne Erfahrung“ über das Netzwerk des Instituts
besonders engagierte Betriebsärzte erreicht worden sein. Möglicherweise hätten andere
Betriebsärzte ein geringeres Interesse an einem konsiliarisch ausgestalteten Angebot
der „Psychosomatischen Sprechstunde im Betrieb“ gezeigt oder weniger Befürchtungen
im Hinblick auf das Entstehen einer Parallelstruktur geäußert.
Die Rekrutierung von Interviewpersonen war nur zeitlich begrenzt möglich (Projektlaufzeit),
sodass eine „Sättigung der Studienpopulation“ [16] nicht garantiert ist und mit weiteren Experten vielleicht neue Aspekte in das Datenmaterial
Eingang gefunden hätten. Da sich im Datenmaterial immer wiederkehrende Themen herauskristallisierten,
ist allerdings davon auszugehen, dass die Datenbasis zentrale Themen repräsentiert.
Diskussion der Ergebnisse
Der hier wiedergegebene Ausschnitt der Studie befasste sich mit der Gestaltung des
neuen Versorgungsangebots PSIB und den damit verbundenen Aspekten Information über
das Angebot, Zugang bzw. Zuweisung, Ort und Behandlungsdauer. Über diese Gestaltungsaspekte
lassen sich ein eher „restriktives“ und ein eher „liberales“ Modell unterscheiden,
wobei vor allem die beiden Aspekte „Information“ und „Zugang“ eng verbunden sind mit
dem Grad der Einbindung des Betriebsarztes. Das „restriktive“ Modell erfüllt hierbei
am ehesten Charakteristika, die für die Konsiliarpsychosomatik im stationären Bereich
[10] beschrieben wurden: Der Betriebsarzt ist dabei derjenige, der ausgewählte Beschäftigte
über die Psychosomatische Sprechstunde informiert. Entsprechend stellt allein der
Betriebsarzt die Indikation und weist der Psychosomatischen Sprechstunde zu und wird
so im „restriktiven“ Modell zu einem zentralen Akteur einer konsiliarisch angelegten
PSIB. Im „liberalen Modell“ nimmt der Betriebsarzt keine zentrale Rolle ein. Hier
werden alle Beschäftigten unabhängig von einer konkreten Bedarfssituation über das
Angebot informiert und können bei unterschiedlichen Zuweisern ihren Bedarf zur Psychosomatischen
Sprechstunde äußern. Der Betriebsarzt wird lediglich informiert. Im vorliegenden Material
ist ein in Bezug auf die Aspekte „Information“ und „Zugang“ „liberales“ Modell ganz
ohne Einbeziehung des Betriebsarztes nicht abgebildet – möglicherweise aufgrund der
Zusammensetzung der Stichprobe.
Die Psychosomatische Sprechstunde kann in betriebseigenen Räumlichkeiten oder betriebsextern
stattfinden. Die Anonymität wird im ersten Fall durch eine Ansiedlung in betriebsärztlichen
Räumlichkeiten und im anderen durch die externe Örtlichkeit gefördert.
Der Gestaltungsaspekt „Umfang der Behandlung“ ist eng verbunden mit einer Kosten-Nutzen-Abwägung
im Betrieb. Umfasst die „Psychosomatische Sprechstunde“ nur ein Erstgespräch, soll
dieses bewirken, dass der Beschäftigte gegebenenfalls mit Unterstützung des Betriebsarztes
oder weiterer betrieblicher Angebote Lösungen für seine Problematik findet oder dass
er ein Verständnis für seine psychosomatischen Zusammenhänge entwickelt und motiviert
ist, Angebote der Regelversorgung wahrzunehmen. Im anderen Konzept können Beschäftigte
bis zu 5 Termine der „Psychosomatischen Sprechstunde“ in Anspruch nehmen – womit gegebenenfalls
bereits eine therapeutische Wirkung erzielt wird.
Die Umsetzung der „Psychosomatischen Sprechstunde im Betrieb“ erfolgt somit aktuell
heterogen; die verschiedenen Gestaltungsaspekte werden in der betrieblichen Praxis
entsprechend der jeweiligen Erfordernisse unterschiedlich kombiniert ([Tab. 4]). Diese Vielfalt bewertete das Fachpublikum im Validierungsworkshop als positiv,
da so ein bedarfsgerechter Zuschnitt des Angebots an die betrieb(särzt)lichen Gegebenheiten
und die Möglichkeiten des Konsiliars erfolgen könne. Ausgehend von den vorliegenden
Erkenntnissen sollten die genannten Aspekte bei Neuimplementierungen des Angebots
und dessen Evaluation [17] bedacht werden. Empfehlungen für ein bestimmtes Modell oder einzelne Komponenten
können derzeit nicht abgegeben werden, da bislang quantitative Daten zur Effektivität
der einzelnen Modelle fehlen.
Zu bedenken ist, dass mit der „Psychosomatischen Sprechstunde im Betrieb“ ein Arbeitgeber-finanziertes
Angebot entsteht, das aufgrund der Adressierung erkrankter/symptomatischer Beschäftigter
letztlich der Regelversorgung zuzuordnen ist. Sollte die aktuell laufende erste Evaluation
[17] dessen Effektivität belegen, könnte die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung
erwogen werden. Spätestens dann sollten – ausgehend von den hier vorgelegten empirischen
Daten – Rahmenbedingungen für die „Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb“ und gegebenenfalls
weitere therapeutische Angebote im Betrieb (z. B Psychosomatische Kurzzeittherapie
[18]) entwickelt und fixiert werden. Alternativ könnte die Versorgung von Beschäftigten
außerhalb des Betriebs beschleunigt werden, wie dies durch Anreizsysteme wie Sondervergütungen
für niedergelassene Psychotherapeuten [19] oder Modelle der Integrierten Versorgung versucht wird. In jedem Fall sollten in
die Entwicklung betriebsnah ausgerichteter Angebote der Krankenversorgung alle Beteiligten,
d. h. Betriebsärzte, betriebliche Akteure und psychosomatische/psychotherapeutische
Konsiliare gleichermaßen eingebunden werden.