Gesundheitswesen 2019; 81(08/09): 732
DOI: 10.1055/s-0039-1694566
Kongresstag 3: 18.09.2019
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Den Ethnisierungskreislauf durchbrechen: Zur Verantwortung qualitativer Migrationsstudien vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Diskurses

Authors

  • L Peppler

    1   Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin
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Publication History

Publication Date:
23 August 2019 (online)

 
 

    Einleitung:

    Qualitative Erhebungsmethoden erhalten zunehmend Einzug in gesundheitswissenschaftliche und medizinische Studien. Dabei stehen die Befragten mit ihren subjektiven Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsschemata im Mittelpunkt der Analyse. Die alltägliche Lebenswelt von (Post-) Migrant*innen ist sehr stark von Ethnisierungsprozessen geprägt. Insofern stellt sich die Frage, inwiefern sich ethnisierende Selbst- und Fremdzuschreibungen von (post-)migrantischen Interviewpartner*innen auf den Forschungsprozess und die Ergebnisse auswirkt.

    Methoden:

    Der Beitrag basiert auf zwei Studien: In der ersten Studie wurden leitfadengestützte Interviews mit 29 Ärzt*innen türkischer Herkunft geführt und mittels MAXQDA gestützter Codierung ausgewertet. In der zweiten Studie wurde u.a. eine fünftägige teilnehmende Beobachtung in einem interkulturellen Pflegedienst durchgeführt, an die sich drei Experteninterviews anschlossen. Die Analyse erfolgte mittels der dokumentarischen Methode.

    Ergebnisse:

    Die Ergebnisse der ersten Studie zeigen, dass wechselseitige Ethnisierungsprozesse die Erzählungen der Befragten überaus stark strukturieren. Sie sind auffällig überdeterminiert vom öffentlichen Diskurs sowie von alltäglichen Ethnisierungs- und Diskriminierungserfahrungen. Dies resultiert in einer migrationsspezifischen Ausprägung sozialer Erwünschtheit: dem Bestreben, sich selbst in Abgrenzung zu anderen als besonders gut integriert darzustellen. Ethnisierungserwartungen seitens der Interviewpartner*innen führen außerdem dazu, dass Fragen >missverstanden< oder Antworten verweigert werden. Daran anschließend zeigen erste Ergebnisse der zweiten Studie, wie Differenzen im Arbeitsalltag von Interviewpartner*innen unter Rückgriff auf unterschiedliche Herkunftskulturen erklärt werden, die bei genauerer Betrachtung (auch) in anderen Aspekten begründet liegen.

    Diskussion:

    Diskutiert wird, inwiefern diese Erkenntnisse für künftige qualitativer Studien mit (post-) migrantischen Interviewpartner*innen fruchtbar gemacht werden können. Denn es liegt in der Verantwortung der Forschenden, die automatisierten Ethnisierungsprozesse zu dekonstruieren und den Kreislauf von Fremd- und Selbstethnisierung zu durchbrechen.