Dr. med. Gert von Mittelstaedt
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP)
Dr. med. Sabine Grotkamp
Mitglied des Vorstands (DGSMP) für den Fachbereich „Praktische Sozialmedizin und
Rehabilitation“ und die Arbeitsgruppe „ICF“
„Nicht ohne uns über uns“ – die aktive Teilhabe von Menschen mit Behinderung auch an der Ausgestaltung der
gesellschaftlichen Maßnahmen in der Umsetzung der UN-BRK ist eine wichtige Richtschnur
der Behindertenpolitik in Deutschland. Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit
Behinderungen bei den Vereinten Nationen hatte dafür der Bundesrepublik „Abschließende
Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands“ vom 13. Mai 2015 mit auf
den Weg gegeben. Darin enthalten waren u. a. die Forderungen nach einer Überarbeitung
der gesetzlichen Definition von Behinderung, um sie mit den allgemeinen Grundsätzen
und Bestimmungen der UN-BRK in Einklang bringen, nach ausreichenden Finanzmitteln,
um De-Institutionalisierung und ein selbstbestimmtes Leben zu fördern, nach einem
inklusiven Arbeitsmarkt und nach den notwendigen sozialen Diensten, um Inklusion,
Selbstbestimmung und Teilhabe am Gemeinschaftsleben zu ermöglichen.
Ein wichtiger weiterer Schritt auf diesem Weg ist der aktuell vorliegende Referentenentwurf
für ein Bundesteilhabegesetz (BTHG). In einem Brief an das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales (BAMS) zu diesem Referentenentwurf befürwortet die Deutsche Gesellschaft
für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) ausdrücklich die Richtungsänderung hin zu
einer personenzentrierten Sichtweise: „Die Leistungen sollen sich am persönlichen Bedarf orientieren und entsprechend eines
bundeseinheitlichen Verfahrens personenbezogen ermittelt werden.“ Insbesondere wird begrüßt, dass in §99 SGB IX auf die Internationale Klassifikation
der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und damit auf das bio-psycho-soziale
Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Bezug genommen werden soll.
Die DGSMP und der Fachbereich „Praktische Sozialmedizin und Rehabilitation“ sowie
die Arbeitsgruppe ICF regen mit dem Schreiben an das BMAS im Referentenentwurf des
Bundesteilhabegesetzes zu §99 SGB IX Leistungsberechtigter Personenkreis in Kapitel
2, Grundsätze der Leistungen aus fachlicher Sicht folgende Überarbeitungen bzw. Ergänzungen
an:
-
Die vorgenommene Definition der erheblichen Teilhabeeinschränkung entspricht nicht
dem modernen Verständnis von Behinderung, wie es in der ICF zum Ausdruck kommt.
-
Sie ist nicht geeignet, die Schwere von Behinderung für die Betroffenen angemessen
festzustellen.
-
Die vorgesehene Definition des leistungsberechtigten Personenkreises kann den Leistungszugang
nicht sinnvoll steuern.
-
Die Quantifizierung von Beeinträchtigungen setzt ein Instrumentarium voraus, das sich
idealerweise an der ICF orientiert, die ICF selbst ist hierzu nicht geeignet.
Die Forderung, dass Aktivitäten, die nicht ohne personelle oder technische Unterstützung
möglich sind, in einer Mindestanzahl von Lebensbereichen auftreten müssen, widerspricht
fundamental dem Verständnis von Behinderung, das der ICF und dem bio-psycho-sozialen
Modell der WHO zugrunde liegt. Unter Behinderung sind die negativen Auswirkungen eines
Gesundheitsproblems einer Person in Form von Schädigungen der Körperfunktionen und
-strukturen und Beeinträchtigungen der Aktivitäten sowie der Teilhabe zu verstehen;
diese können untereinander in Wechselwirkung stehen und durch den individuellen Lebenshintergrund
(Umwelt- und personenbezogene Faktoren wie Alter, Geschlecht, Gewohnheiten, Bewältigungsstile)
moduliert werden. Behinderung ist daher stets individuell und umfassend zu betrachten
– sie kann nicht schematisch durch die Anzahl von Lebensbereichen mit Beeinträchtigung
bewertet werden. Es gibt zudem keine Gleichwertigkeit aller Lebensbereiche, nicht
zuletzt deshalb, weil sie nicht losgelöst voneinander zu sehen sind, sondern sich
in Teilen auch überlappen.
Die bloße Anzahl von Lebensbereichen, in denen die Teilhabe eingeschränkt ist, bildet
die individuelle Schwere der Behinderung nicht ab. Hierfür ist die Qualität, nicht
die Quantität der Beeinträchtigungen ausschlaggebend. Es gilt dabei auch die relevanten
möglichen Wechselwirkungen zwischen der Behinderung bzw. Funktionsfähigkeit und den
individuellen Kontextfaktoren zu berücksichtigen, denn der reale Grad einer Beeinträchtigung
der Teilhabe hängt nicht zuletzt auch vom Einfluss der Kontextfaktoren ab. Die im
Referentenentwurf als Schwelle für den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe
vorgesehene Anzahl von Lebensbereichen (mindestens 5 von 9) ist nicht wissenschaftlich
begründet. Sie erscheint willkürlich festgesetzt, sodass eine solche Definition des
Leistungsberechtigten Personenkreises weder praktikabel noch allgemein akzeptiert
sein wird. Es besteht die Gefahr, dass in der Praxis Checklisten „abgehakt“ werden,
anstelle der erforderlichen individuell umfassenden Sachverhaltsklärung.
Die Schwere einer (drohenden) Behinderung kann sachgerecht nur durch eine individuelle
und umfassende Begutachtung/Bedarfserhebung auf der Grundlage des bio-psycho-sozialen
Modells der WHO festgestellt werden. Daher ist die Nutzung der ICF durchgängig im
Bedarfsfeststellungsverfahren, bei der Teilhabeplanung und bei Teilhabekonferenzen
zu fordern.
Während an die erhebliche Teilhabeeinschränkung in §+99 Abs. 1 Satz 2 sehr hohe Anforderungen
gestellt werden, bleibt die drohende erhebliche Teilhabeeinschränkung unbestimmt („nach
fachlicher Kenntnis“). Die drohende erhebliche Teilhabeeinschränkung begründet aber
nach §+99 Abs. 1 Satz 3 denselben Leistungsanspruch wie die bereits eingetretene erhebliche
Teilhabeeinschränkung. Damit entfaltet die Beschreibung des leistungsberechtigten
Personenkreises in Satz 2 keine Steuerungswirkung bezüglich der Leistungsansprüche.
Die ICF wird für eine qualitative Bewertung von Beeinträchtigungen/Unterstützungsbedarfen
im Sinne einer vereinfachenden Mengenbildung in unzulässiger Weise herangezogen und
damit selbst als Instrument genutzt. Die ICF ist aber kein Assessment und kein Erhebungsinstrument,
sondern ein Klassifikationssystem. Die ICF bietet für die sozialmedizinische Perspektive
ein passendes Modell, indem sie die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen differenziert
betrachten lässt und indem sie die Einflussfaktoren des persönlichen Lebenshintergrundes
berücksichtigen lässt. Beeinträchtigte Teilhabebereiche können mithilfe der ICF beschrieben
bzw. klassifiziert werden; für eine Quantifizierung der jeweiligen Beeinträchtigungen
bedarf es aber eines entsprechend geeigneten Instrumentariums. Hierzu werden in der
ICF ansatzweise Beurteilungsmerkmale vorgeschlagen, die aber einer weiteren Ausdifferenzierung
bedürfen.
Die DGSMP mit ihrem Fachbereich „Praktische Sozialmedizin und Rehabilitation“ und
der Arbeitsgruppe „ICF“ plädiert sowohl aus diesem Anlass als auch im Hinblick auf
die Einheit der Sozialmedizin für eine durchgängige Orientierung – neben dem SGB IX
– auch an der ICF und hofft, dass sie mit ihren Anregungen die Gesetzgebung zu diesem
sehr zu begrüßenden Vorhaben konstruktiv unterstützen kann.