Klin Monbl Augenheilkd 2002; 219(6): 407-409
DOI: 10.1055/s-2002-32885
Laudatio
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Laudatio zum 65. Geburtstag von Heinrich Witschel

Laudatio to the 65th birthday of Heinrich WitschelLutz  L.  Hansen
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Publication Date:
22 July 2002 (online)

Am 13. 7. 02 beging Prof. Heinrich Witschel seinen 65. Geburtstag. Er wird zum 30. 9. 02 die Leitung der Freiburger Augenklinik abgeben. Es ist mir eine große Ehre und Freude, auch im Namen seiner Schüler und Mitarbeiter, meinen Dank an meinen wichtigsten Lehrer in Form dieser Würdigung abzustatten. Heinrich Witschel hat diese Laudatio nicht gewollt, weil er glaubt, dass sie ihm nicht zustehe. In diesem Fall meine ich aber, mich mit Recht darüber hinwegsetzen zu dürfen. Gewiss gibt es etliche Ophthalmologen, die mehr in die Entwicklung der Augenheilkunde eingegriffen haben und einen größeren direkten Einfluss gehabt haben als er. Aber alle, die ihn persönlich kennen gelernt haben, sind von seiner unbestechlichen, vom allgemeinen Zeitgeist unabhängigen Persönlichkeit beeindruckt und können sich diesem Vorbild nur schwer entziehen.

Heinrich Witschel wurde 1937 in Nürnberg geboren und wuchs in Schleswig-Holstein auf. Seine Wurzeln liegen zum einen im Beruf des Vaters, zum anderen aber auch in der bodenständigen bäuerlich-pastörlichen Seite der mütterlichen Großeltern, bei denen er die meisten Jahre seiner Kindheit und Jugend verbrachte. Nach dem Abitur 1957 und dem nachfolgenden Militärdienst nahm er 1958 das Medizinstudium in Erlangen auf und schloss es dort nach einigen Zwischensemestern im lieblichen Freiburg 1964 mit dem Staatsexamen ab.

Schon während der Semester in Freiburg empfing er erste wesentliche Eindrücke durch den Pathologen Franz Büchner, der ihn so sehr beeindruckte, dass er den Entschluss fasste, sich mehr und mehr mit morphologischen Fragen zu beschäftigen. Daher war es auch nur konsequent, dass er nach seiner Medizinalassistentenzeit 1964/65 in den großen Fächern Chirurgie, Innere und Gynäkologie in das Pathologische Institut in Würzburg eintrat. Auch dort war er zunächst Medizinalassistent und wurde dann wissenschaftlicher Assistent bei Werner Altmann, einem der bedeutendsten Schüler von Franz Büchner. Hier entstanden auch seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten. Da ihn morphologische Klärungen besonders interessierten, wechselte Heinrich Witschel 1967 ans Institut für Rechtsmedizin in Erlangen.

Letztlich dürfte ihn die reine morphologische Arbeit aber doch nicht genügend befriedigt haben, denn sein Wunsch wurde immer stärker, auch wieder am Patienten ärztlich tätig zu werden. So trat er 1971 als „Spätberufener” erst mit 34 Jahren den Weg in die Ophthalmologie an, als er Assistent an der Universitäts-Augenklinik Freiburg unter Professor Günther Mackensen wurde. Neben der klinischen Tätigkeit machte er es sich zur Aufgabe, das Labor auszubauen und auf solide histopathologische Füße zu stellen. Er war sich auch nicht zu fein, und das ist ein ganz charakteristisches Merkmal von Heinrich Witschel, sich von dem damals zwar recht kompetenten, aber niemals ausgebildeten, autodidaktischen technischen Mitarbeiter Franz Jankowski einweisen zu lassen.

1974/75 erhielt er die Möglichkeit, über ein Forschungsstipendium nach Washington an das berühmte Armed Forces Institut of Pathology zu gehen, um bei Lorenz Zimmermann eine gründliche und vertiefende Ausbildung in der Histopathologie des Auges zu erhalten.

Nach seiner Rückkehr wurde er Facharzt für Augenheilkunde und hatte seinen klinischen Schwerpunkt eher in den Hinterabschnitten, obwohl er sich niemals auf ein Augensegment festlegen wollte und ließ. Er hatte allenfalls Interessenschwerpunkte, die mit seinen histopathologischen Möglichkeiten zusammenhingen. Bereits 1977, sechs Jahre nach Beginn seiner Assistententätigkeit, habilitierte er sich über die Pathogenese und Ätiologie der äquatorialen Netzhautdegeneration. Er wurde dann Oberarzt der Klinik und 1979 zum außerplanmäßigen Professor ernannt.

1984 erhielt Heinrich Witschel den Ruf an die Universitäts-Augenklinik Steglitz der Freien Universität Berlin. Diese Berliner Zeit war für ihn sicher eine harte Prüfung, da sich die Situation in Berlin grundsätzlich von der in Freiburg unterschied. Von der altehrwürdigen, in allen Bereichen der Augenheilkunde gut gegründeten, renommierten Freiburger Klinik musste er sich in ein junges, instabiles Haus begeben, das nach dem tragischen Tod seines Vorgängers Hugo Hager sehr unter dem „einnehmenden” Wesen der anderen Kliniken gelitten hatte. Hinzu kam eine Fakultät, mit deren politischen Schubladendenken Heinrich Witschel große Schwierigkeiten hatte und in das er sich nicht einbinden lassen wollte und konnte. In seinem nur 4-jährigem, Wirken in dieser schwierigen Situation gelang es ihm als vorbildlichem Klinikleiter und begeisterndem Lehrer dennoch, die Steglitzer Augenklinik wieder zu einem geschätzten und geachteten Haus zu machen. Es fiel ihm dann auch nicht ganz leicht, wie er immer wieder versichert hat, 1988 dem Ruf in seine ophthalmologische Heimat zu folgen, um als Nachfolger von Professor Günther Mackensen die Leitung der Freiburger Augenklinik zu übernehmen.

In Freiburg widmete er sich mit großem Elan der Aufgabe, das Werk seines hochgeschätzten Lehrers Mackensen fortzuführen und den hohen mikrochirurgischen und wissenschaftlichen Standard zu halten und, wo erforderlich, zu erweitern. Nach der stürmischen Weiterentwicklung der Methoden im Bereich der Katarakt- und vitreoretinalen Chirurgie kam es zu einer Verdoppelung der Operationszahlen ohne Zuwachs von Personal. Dieses wollte alles verkraftet werden und es war nicht immer in seinem Sinne, dass nun zwangsläufig die Zeit für die gründliche Untersuchung und Betreuung des Patienten abnahm. Für Heinrich Witschel blieb der Patient trotz aller gesundheitspolitischer Distraktoren weiterhin im Mittelpunkt. Er ließ es sich bei aller zeitlichen Bedrängnis nie nehmen, täglich in der Ambulanz schwierige Patienten anzuschauen, täglich alle zu operierenden Patienten selbst in Augenschein zu nehmen und natürlich mindestens einmal in der Woche die Stationen zu visitieren.

Ein ganz besonderes Anliegen war Heinrich Witschel die Lehre und die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter. Die von ihm jedes Mal wieder neu vorbereitete Hauptvorlesung war auch in Zeiten leerer Hörsäle gut gefüllt, da sie spannend und verständlich war und sich an der Praxis orientierte. Die Studenten würdigten dies, indem sie seit Einführung der Evaluation seine Vorlesung jedes Jahr zur besten der Fakultät erkoren haben.

Sein eigenes umfassendes Wissen fand natürlich auch in der Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter seinen Niederschlag. Ihm war wichtig, dass er als klinisch tätiger Ophthalmopathologe wesentlich zum Verständnis der Augenerkrankungen und auch zur Qualitätskontrolle nach Operationen beitragen konnte. Nur so schien ihm die notwendige breite ophthalmologische Ausbildung gewährleistet. Besonderen Respekt verschaffte ihm dabei, dass er niemals vorgab, etwas zu wissen, wenn dem nicht so war. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit. Von welchem Klinikleiter hört man schon einmal die Antwort: „Das weiß ich auch nicht”. Heinrich Witschel weiß so viel und hat sich nie gescheut, diesen Satz auszusprechen. Diese Ehrlichkeit verlangte er auch von seinen Mitarbeitern. Nichts kann er weniger leiden als eine „Biersicherheit”.

Für die niedergelassenen Kollegen führte er die von seinem Vorgänger eingerichteten, inzwischen an fast allen Universitäten üblichen Augenärzteabende fort. Mehr als 70-mal hat er ohne Unterstützung der Industrie dazu eingeladen und damit die augenärztliche Fortbildung im Südwesten wesentlich getragen.

Wissenschaftlich ist Heinrich Witschel immer auf dem neuesten Stand, nicht nur in der Ophthalmologie. Man spürt vor allen Dingen das Interesse für die naturwissenschaftlichen Grundlagen. Dabei werden neue Methoden und Techniken immer kritisch auf Gehalt und Nutzen für den Patienten hinterfragt. Es war nicht seine Sache, die Mitarbeiter mit ständigen Mahnungen zu mehr Forschung anzutreiben, trotzdem entstand ein Klima von Kreativität und Verantwortungsfreudigkeit, in dem jeder seine Projekte verfolgen konnte und dabei von ihm unterstützt wurde.

In den Augen von Heinrich Witschel wird zu oft publiziert, was schon einmal gesagt worden ist. Trotzdem unterstützt er qualitätsvolle Publikationen seiner Mitarbeiter auf eine Weise, wie dies wohl nur durch wenige wissenschaftliche Lehrer geschieht. Sein Markenzeichen besteht darin, dass er jedes vorgelegte Manuskript innerhalb von ein bis zwei Tagen durchliest und gründlich korrigiert zurückgibt. Neben der wissenschaftlichen Kritik wird allerdings auch unerbittlich Stilkunde betrieben. So mancher verschlungene, substantivische Satz wird plötzlich durch ein paar Umstellungen klar und verständlich. Und der Name des Chefs muss dann als Lohn nicht etwa hinten mit auf die Publikation! Von dieser Unerbittlichkeit haben in den letzten Jahren auch zahlreiche Weiterbildungsartikel externer Autoren profitiert.

Die Wissenschaftspolitik ist Heinrich Witschels Sache nicht. Er liebt es nicht, im Rampenlicht großer Kongresse oder Veranstaltungen zu stehen. Mehr zu sein als zu scheinen ist sein unbedingtes, nicht mehr ganz dem Zeitgeist entsprechendes Kennzeichen. Dennoch hat er sich den Aufgaben, wenn sie denn an ihn herangetragen wurden, nicht verschlossen. So war er viele Jahre Sekretär der European Ophthalmopathological Society und steht diesem Verband seit 1999 als Präsident vor. In der Fakultät hat er sich insbesondere um wissenschaftsethische Fragen der Datenkontrolle und Vielautorenschaft gekümmert, ein in den letzten Jahren zunehmend brisant gewordenes Thema. Mit Sorge hat er den zunehmenden Einfluss der Industrie im ärztlichen und Wissenschaftsbereich betrachtet, der unsere Unabhängigkeit in Forschung und Lehre bedroht.

Die Charakterisierung von Heinrich Witschels Wirken wäre unvollständig, erwähnte man nicht, dass er niemals nur Mediziner oder gar nur Ophthalmologe ist. Trotz seines sehr großen Pflicht- und Verantwortungsbewusstseins gab es für ihn immer auch ein Leben außerhalb der Arbeit. Er besticht durch eine umfassende Bildung, hat eine große Liebe zur Musik, zum Theater und zur Literatur und ist außerordentlich naturverbunden. Wer mit ihm durch die Fluren wandert, ist verblüfft, mit welch offenen Ohren und Augen er die Details wahrnimmt und zum Beispiel jeden kleinen Sänger erkennt. Seine Naturverbundenheit hat es ihm sicher auch in der Klinik ermöglicht, zu leben und leben zu lassen. Ich bin dankbar für die lange, aber doch spürbare Leine, die er uns Mitarbeitern gelassen hat und wünsche ihm ein langes und erfülltes Pensionärsleben an der Seite seiner Frau Marianne, die so viele Lasten hat mittragen müssen, und im Kreise seiner Kinder und seiner Enkelin, zu der sich hoffentlich noch einige hinzugesellen mögen.

Lutz L. Hansen

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