Sprache · Stimme · Gehör 2010; 34(2): 57
DOI: 10.1055/s-0030-1253360
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Pragmatik und Sprachstörungen

Pragmatics and Language DisordersG. Rickheit
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Publication Date:
07 June 2010 (online)

Sprachstörungen beeinflussen die Kommunikation und das sprachliche Handeln im alltäglichen Leben von vielen Patienten, dennoch ist gerade dieser Aspekt in der bisherigen einschlägigen Forschung zu kurz gekommen. Seit Jahren wird immer wieder beklagt, dass die in der Therapie mühsam erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten nur bedingt oder gar nicht von den Patienten in ihrer alltäglichen Interaktion eingesetzt werden. Dieser mangelnde Transfer von der Therapie in die Alltagswelt der Patienten lässt den therapeutischen Erfolg fragwürdig erscheinen. In diesem Bereich der Patientenbetreuung bedarf es zukünftig einer erhöhten Anstrengung, um den Betroffenen gerecht zu werden und ihnen dazu zu verhelfen, tatsächlich am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren, so wie es die WHO in ihren ICF-Richtlinien vorschreibt.

Mit dem Schwerpunktthema „Pragmatik und Sprachstörungen” wollen wir auf den Facettenreichtum dieses komplexen Problemfeldes aufmerksam machen und an ausgewählten Beispielen aufzeigen, wo genau die Probleme zu suchen sind und welche Problemlösungsstrategien zur Verbesserung der Situation der Patienten beitragen können. Die in diesem Heft aufgeführten Beiträge beschäftigen sich mit pragmatischen Sprachstörungen bei Aphasie (P. Jaecks und M. Hielscher-Fastabend) und Alzheimer-Demenz (M. Schecker). Der Beitrag von J. Schmich et al. stellt einen neu entwickelten Fragebogen zur Selbsteinschätzung für dysarthrische Patienten vor. Ein weiterer Beitrag von O. Kneidl beschäftigt sich mit pragmatischen Störungen beim Stottern. Welche Probleme Kinder mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen in der Alltagskommunikation haben und welche Verfahren es zur Diagnose von pragmatischen Störungssymptomen gibt, zeigt der Beitrag von D. Möller und U. Ritterfeld auf. Diese Beiträge beschreiben also bestimmte sprachliche Störungsbilder, wobei sie jeweils die spezifischen pragmatischen Probleme der betreffenden Patientengruppen behandeln.

Die drei sich anschließenden Beiträge fokussieren methodische Möglichkeiten zur Erforschung der pragmatischen Störungen. Als offenkundig sehr geeignete Methode zur Erforschung von pragmatischen Sprachstörungen erweist sich die Gesprächsanalyse, da sie die verschiedenen Kommunikationssituationen im Alltag der Patienten beobachten und auswerten kann, was A. Bauer und P. Auer sehr anschaulich dokumentieren. Die von C. Vorwerg vorgestellten psycholinguistischen Methoden geben Einblick, wie man bestimmte Kausalzusammenhänge von Sprachverarbeitungsstörungen erforschen kann. Noch komplizierter sind die sehr differenzierten Methoden der Neurolinguistik, die eine aufwändige apparative Ausrüstung erfordern. Diese neurophysiologischen Methoden werden gut nachvollziehbar von H. M. Müller und S. Weiss beschrieben. Mithilfe dieser vorgestellten Methoden können jeweils sehr unterschiedliche Aspekte von pragmatischen Sprachstörungen erforscht werden. Während die Gesprächsanalyse vor allem die Interaktion von Kommunikationspartnern untersucht, sind die Methoden der Neurolinguistik eher im Mikrobereich des aktiven Gehirns anzusiedeln. Die Methoden der Psycholinguistik können demgegenüber sowohl interindividuelle als auch intraindividuelle Prozesse und deren Störungen erfassen.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. G. Rickheit

Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft

Universität Bielefeld

Universitätsstraße 25

33615 Bielefeld

Email: gert.rickheit@uni-bielefeld.de

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