Rehabilitation (Stuttg) 2012; 51(02): 96-102
DOI: 10.1055/s-0032-1306292
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Helfen nach Berechnung? Ethische Einwände gegen die Priorisierung in der Medizin

Helping as a Matter of Expedience? Ethical Objections against Prioritization in Medicine
G. Maio
1   Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
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Publication Date:
08 May 2012 (online)

Zusammenfassung

Die Frage, ob es ethisch angemessen sein kann, die Knappheit der Ressourcen in der Medizin über ­Priorisierungslisten zu „lösen“, ist Gegenstand der Arbeit. Es wird argumentiert, dass eine solche schematische Priorisierungsliste nur dann in ethischer Hinsicht unangefochten sein könnte, wenn in ihr ein breiter Konsens darüber zum Ausdruck käme, was man unter einem guten Leben zu verstehen hätte. Denn Priorisierungsentscheidungen sind immer zugleich auch implizite Entscheidungen über Konzepte des guten Lebens. Die Entscheidung, dass diese eine Behandlung Vorrang vor der anderen hat, bedeutet insofern auch eine Entscheidung darüber, was wichtig ist für ein gutes Leben, was überhaupt erstrebenswert sein soll im Leben und welches Leben überhaupt als ein wertvolles Leben angesehen werden soll. Priorisierung lässt sich also nicht nach Maßstab der Zahlen vornehmen, sondern nur nach Maßstab von Werten. Wenn man nun allein Kosten-Nutzen-Analysen zugrunde­ ­legte, und den Nutzen allein in Geldeinheiten ausdrückte, so ginge dies unweigerlich mit der Gefahr der Vernachlässigung der chronisch Kranken, der nicht mehr heilbar Kranken, der betagten Menschen einher. Damit würden genau die Menschen benachteiligt, für die die Medizin als Heilkunde sich im Grunde zu allererst zuständig fühlen sollte. Es wird dafür plädiert, die gegenwärtige Kostendebatte als Chance zu begreifen, sich in der Medizin auf den Kern der ärztlichen Aufgabe zu besinnen und statt der Einführung von Priorisierungslisten die Einführung eines neuen Bewusstseins auf den Weg zu bringen, das Bewusstsein, dass humane Medizin eben kein kühl berechnender Warentausch sein kann. Von einer humanen Medizin kann nur gesprochen werden, wenn sie befähigt wird, einen bedingungslosen Dienst am Menschen zu vollziehen ohne zu kalkulieren. Der Weg dahin kann aber nicht über kalkulierende Priorisierungslisten gehen, weil diese die berechnende Grundhaltung eher noch verstärken würden.

Abstract

The paper discusses the question whether it could be ethically appropriate to “resolve” the problem of scarce resources in health care via priority lists. It is argued that such a schematical priority list could only be undisputed in ethical respects if it represented a broad consensus on the question what a good life would be. Priority lists are always implicit decisions about specific concepts of the good life. Using a priority list only in consideration of a mere cost-benefit ratio means to accept a mere utilitarian way of defining good life. Such a definition goes with neglect of the interests of people with chronic diseases, of patients with incurable diseases, of patients with a limited life expectancy. To neglect the interests of these patients means to abandon the core of medical identity, because medicine has the mission to help those above all who are most in need and those who cannot help themselves. And so we have to realize that for medicine there are some values which are more important than economic considerations. The physician is a person who gives a promise, the promise to be there for the patient. If the physician now is becoming a businessman, this promise is no longer valid. The businessman doesn’t give any other promise than not to act against the contract. But the main need of the patient, his longing for a human person whom he can trust, cannot become part of a contract. Especially in our time medicine has to fight for the core of its identity.

 
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