Schlüsselwörter
Unfälle - Verletzungen - Schule - Schulhof - Kinder - Jugendliche
Keywords
accidents - injuries - school - schoolyard - children - youth
Einleitung
Unfälle im Kindes- und Jugendalter gehören zu den dringendsten Public Health-Problemen
in Deutschland. Sie zählen zu den häufigsten Todesursachen und rund 280000 Kinder
und Jugendliche müssen pro Jahr aufgrund von Unfällen und Verletzungen stationär behandelt
werden [1]. Neben Unfällen im Haushalt und in der Freizeit, ist insbesondere der Lebensbereich
Schule von großer Bedeutung. So weist die Statistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung
(DGUV) für das Jahr 2014 bundesweit knapp 1,4 Millionen ärztlich versorgter Schulunfälle
aus [2].
Bislang ist nur wenig darüber bekannt, welche Merkmale das Risiko beeinflussen, Unfälle
und Verletzungen im Schulkontext zu erleiden. Dies liegt einerseits daran, dass die
Mehrzahl der Untersuchungen zu Schulunfällen und -verletzungen auf Informationen basiert,
die nur von den tatsächlich verletzten Schulkindern vorliegen bzw. erhoben wurden.
Andererseits sind die wenigen nationalen wie internationalen epidemiologischen Studien,
in deren Rahmen Kinder mit und ohne Verletzungen untersucht werden, eher darauf ausgelegt,
Risikoprofile von Verletzungen im Allgemeinen zu skizzieren [3]
[4].
Im Rahmen der Studie Gesundheitsverhalten und Unfallgeschehen im Schulalter (GUS;
unterstützt von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) ) werden ganz
gezielt Verletzungen in der Schule in den Fokus gerückt und deren Einflussgrößen untersucht.
Die Studie ist zudem als Panel angelegt, um kausale Strukturen von Schulverletzungen
besser aufdecken zu können als es mit Querschnittstudien oder Trenddesigns möglich
ist.
Die GUS-Studie unterscheidet in der Gruppe der Schulverletzungen nach Verletzungen,
die sich auf dem Schulweg, im Schulsport, im Schulgebäude und auf dem Schulhof zugetragen
haben. All diese Verletzungen weisen je eigene Risikokonstellationen aus individuellen
und kontextuellen Faktoren auf. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf Verletzungen
auf dem Schulhof. Neben Verletzungen im Schulsport ist der Schulhof jener Ort im Kontext
Schule, an dem sich die meisten Verletzungen zutragen [5]
[6]
[7]
[8]
[9]. Daher möchten wir im vorliegenden Beitrag auf der Grundlage multivariater Mehrebenenmodelle
potenzielle Einflussfaktoren auf Verletzungen auf dem Schulhof untersuchen.
Methodik
Die GUS-Studie startete mit der ersten Erhebung im Schuljahr 2014/15 mit der Befragung
von Schüler/innen der 5. Jahrgangsstufe. Im Rahmen der zweiten Erhebungswelle, auf
deren Daten im Folgenden zurückgegriffen wird, konnten 10089 Schüler/innen der 6.
Jahrgangsstufe aus 547 Schulklassen und 138 Schulen befragt werden.
Stichprobendesign
Alle Schüler/innen die im Schuljahr 2014/15 an allgemeinbildenden, weiterführenden
Regelschulen in der 5. Jahrgangsstufe unterrichtet wurden, stellen die Grundgesamtheit
dar. Da von diesen Schulkindern keine Liste zur Stichprobenziehung vorliegt, erfolgte
eine Auswahl von Schulen. Innerhalb der gezogenen Schulen wurde aus forschungspragmatischen
Gründen die gesamte Jahrgangsstufe befragt.
Um sowohl alle Bundesländer zu berücksichtigen als auch die bundeslandspezifische
Verteilung der Schüler/innen auf die einzelnen Schulformen adäquat abzubilden, wurde
in enger Kooperation mit GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften eine geschichtete
Zufallsstichprobe gezogen. Die Schichten repräsentieren dabei jeweils eine Kombination
aus den Merkmalen Bundesland, Kreis, Schulform, Schulgröße und Urbanität. Die Bruttostichprobe
für die erste Erhebungswelle betrug 854 Schulen in den 11 teilnehmenden Bundesländern.[1] Knapp ein Fünftel der kontaktierten Schulen (17,3%) konnte für die Teilnahme gewonnen
werden.[2]
Datenerhebung und Fragebogeninhalte
Die Schüler/innen wurden innerhalb von 45 Minuten mittels eines standardisierten elektronischen
(Offline-) Fragebogens im Klassenverbund befragt. Dabei erhielt jedes Schulkind, für
das eine schriftliche Einwilligungserklärung der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten
vorlag, einen Tablet-PC ausgehändigt, auf dem der Fragebogen bereits aufgespielt war
und selbständig beantwortet werden konnte.[3] Bei sämtlichen Klassenbefragungen war ein(e) geschulte(r) Interviewer*in anwesend,
um die Kinder in die Befragung einzuführen, das Handling der Geräte zu erläutern und
auf Fragen zu reagieren.
Im ersten Teil des Fragebogens wurden die Kinder nach erlittenen Verletzungen im Schulkontext
befragt. Anschließend wurden das Bewegungs- und Ernährungsverhalten der Kinder erhoben,
ebenso wie ihr physischer Gesundheitszustand oder Beeinträchtigungen, wie z. B. Schlaf-
oder Konzentrationsstörungen. Neben soziodemografischen Angaben (z. B. Migration,
materielle Ausstattung des Haushalts) wurden zudem Informationen über den Kontext
Schule gewonnen. Hierzu zählen bspw. Angaben zum wahrgenommenen Zustand der Schule.
Schließlich wurde der Datensatz mit weiteren Strukturmerkmalen der teilnehmenden Schulen
angereichert (z. B. Schulform und Bundesland).
Analysestrategie
Die abhängige Variable stellen Verletzungen dar, die sich auf dem Schulhof ereignet
haben. Die Analyse beschränkt sich auf die zweite Erhebungswelle, da der Berichtszeitraum
von Schulverletzungen die letzten 12 Monate umfasst. Dies hat zur Folge, dass sich
viele der in der ersten Welle von den Kindern berichteten Schulverletzungen noch während
der Grundschulzeit ereignet haben dürften. In der zweiten Erhebungswelle ist hingegen
gesichert, dass sich die Angaben zu erlittenen Schulverletzungen auf Verletzungen
an der weiterführenden Schule beziehen, zu der Kontextmerkmale erhoben wurden.
Zur Erklärung von Verletzungen auf dem Schulhof werden einige Individual- und Kontextmerkmale
herangezogen, deren Messung, Konstruktion und Verteilung in [Tab. 1] dargestellt ist.[4] Da die vorliegenden Daten eine hierarchische Struktur aufweisen, ist die Schätzung
von Mehrebenenmodellen [10],[11] notwendig. Diese Modelle tragen dem Umstand Rechnung, dass sich Schüler/innen derselben
Schule ähnlicher sein sollten, als Schüler/innen aus unterschiedlichen Schulen.
Tab. 1 Übersicht der berücksichtigten Merkmale und deren Verteilung.
Abhängige Variable
|
Merkmal
|
Konstruktion
|
x/p
|
sd
|
min
|
max
|
p(25)
|
p(75)
|
Verletzung auf dem Schulhof
|
F: Wie häufig hast Du Dich seit der letzten Befragung (etwa vor 12 Monaten) in der Schule
oder auf dem Schulweg verletzt und musstest deswegen von einem Arzt untersucht bzw.
behandelt werden? A:
Ich habe mich während der letzten 12 Monate in der Schule nicht verletzt; 1-mal;
2-mal; 3-mal oder häufiger
F: Wo genau warst Du gerade, als Dir diese Verletzung passiert ist? A:
im Sportunterricht; auf dem Schulweg (Hin- oder Rückweg); auf dem Schulhof; im Schulgebäude,
aber nicht im Sportunterricht (z. B. im Klassenzimmer oder im Treppenhaus); an der
Bus- oder Bahnhaltestelle; bei einer Schulveranstaltung (z. B. Schulausflug oder Projekttag
usw.); an einem anderen Ort, und zwar: ____
Zusätzlich wurde noch eine weitere Kontrollfrage nach der ärztlichen Behandlung gestellt.
Bei Kindern mit mehreren Schulverletzungen wurden nur Informationen zur schwersten
Schulverletzung erhoben. Die Kinder wurden dabei gebeten, an jene Verletzung zu denken,
bei der die Genesung am längsten gedauert hat. Kinder, deren (schwerste) Schulverletzung sich laut Selbstauskunft auf dem Schulhof
zugetragen hat, erhielten den Wert 1.
|
5,8%
|
0,2
|
0
|
1
|
0
|
0
|
Unabhängige Variablen (Individualmerkmale; N=7.413)
|
Merkmal
|
Konstruktion
|
x/p
|
sd
|
min
|
max
|
p(25)
|
p(75)
|
Expositionszeit in der Schule
|
F:
Von wann bis wann bist Du an einem Montag in der Schule? Denke bitte auch an Hausaufgabenbetreuung,
AGs usw. Trage bitte die Uhrzeit ein. Wenn sich die Zeiten manchmal ändern, denke
bitte an die aktuelle Woche.
F:
Denke jetzt bitte an den Dienstag: Um wie viel Uhr kommst Du an der Schule an und
um wie viel Uhr verlässt Du da die Schule? (entsprechend auch für die übrigen Wochentage)
Die täglichen Expositionszeiten wurden aufsummiert und in eine neue Variable überführt.
|
30,6
|
3,4
|
19
|
47,3
|
28,2
|
32,6
|
Sport in Verein und Freizeit
|
F:
Wie viele Stunden Sport treibst Du in einer normalen Woche in einem Verein? Wenn
Du nicht in einem Sportverein bist, trage einfach eine „0“ ein. Bitte runde auf volle
Stunden auf!
F:
Und wie viele Stunden Sport treibst Du in einer normalen Woche in Deiner sonstigen
Freizeit? Runde bitte wieder auf volle Stunden auf!
Die Sportstunden in Verein und Freizeit wurden aufsummiert und in eine neue Variable
überführt.
|
6,8
|
4,8
|
0
|
36
|
3
|
9
|
Schlafstörungen
|
F: Wenn Du an die letzte Woche denkst, wie häufig treffen da die folgenden Dinge auf
Dich zu? Ich konnte schlecht schlafen. A:
gar nicht; an einem Tag; an 2–4 Tagen; an 5–6 Tagen; jeden Tag
Die einzelnen Werte wurden in Wochentage überführt (gar nicht=0; an einem Tag=1; an
2–4 Tagen=3; an 5–6 Tagen=5,5; jeden Tag=7)
|
1,5
|
2,1
|
0
|
7
|
0
|
3
|
Risikobereitschaft
|
F: Nun möchten wir gerne wissen, wie sehr die folgenden Aussagen auf Dich zutreffen.
(1) Ich habe Spaß daran, gefährliche Sachen zu machen. (2) Ich liebe neue und aufregende
Erlebnisse, auch wenn sie manchmal etwas gefährlich oder bedrohlich sind. A:
trifft überhaupt nicht zu; trifft eher nicht zu; teils/teils; trifft eher zu; trifft
voll und ganz zu
Die Antwortoptionen wurden in einen Wertebereich von 0 (trifft überhaupt nicht zu)
bis 4 (trifft voll und ganz zu) überführt und die Summe aus beiden Antworten gebildet.
|
3,4
|
2,2
|
0
|
8
|
2
|
5
|
Unabhängige Variablen (Individualmerkmale, Fortsetzung)
|
Merkmal
|
Konstruktion
|
x/p
|
sd
|
min
|
max
|
p(25)
|
p(75)
|
Mobbing
|
(nach einer ausführlichen Erläuterung des Begriffs Mobbing)
F: Wie oft bist Du in den letzten 12 Monaten von Mitschülerinnen und Mitschülern gemobbt
worden? A:
gar nicht; 1- oder 2-mal im Jahr; 2- bis 3-mal im Monat; ungefähr 1-mal pro Woche;
mehrmals pro Woche.
|
|
|
|
|
|
|
Aus den Antwortoptionen wurden 3 dichotome Variablen gebildet:
|
|
|
|
|
|
|
(1) Das Schulkind gab an, in den vergangenen 12 Monaten nicht gemobbt worden zu sein
|
70,7%
|
0,5
|
0
|
1
|
0
|
1
|
(2) Das Schulkind gab an, 1- oder 2-mal im Jahr gemobbt worden zu sein
|
17,5%
|
0,4
|
0
|
1
|
0
|
0
|
(3) Das Schulkind gab an, 2- bis 3-mal im Monat oder häufiger gemobbt worden zu sein
|
11,7%
|
0,3
|
0
|
1
|
0
|
0
|
(männliches) Geschlecht
|
F: Bist Du ein Junge oder ein Mädchen? A:
Junge; Mädchen
Mädchen wurden mit dem Wert 0 kodiert, Jungen mit dem Wert 1
|
46,8%
|
0,5
|
0
|
1
|
0
|
1
|
Migrationshintergrund
|
F: In welchem Land wurde Deine Mutter geboren? F: In welchem Land wurde Dein Vater geboren? A:
(jeweils) in Deutschland; in einem anderen Land, und zwar _____________
Aus den Angaben der Schulkinder wurde eine dichotome Variable gebildet, die dann den
Wert 1 annimmt, wenn mind. ein Elternteil nicht in Deutschland geboren wurde.
|
28,4%
|
0,5
|
0
|
1
|
0
|
1
|
materielle Ausstattung des elterlichen Haushalts
|
F: Besitzt Deine Familie ein Auto? A: nein; ja, eins; ja, 2 oder mehr F: Hast Du ein eigenes Zimmer nur für Dich allein? A: nein; ja F: Wie häufig bist Du mit Deiner Familie im letzten Jahr in den Urlaub gefahren? A: überhaupt nicht; 1-mal; 2-mal; mehr als 2-mal F: Wie viele Bücher gibt es ungefähr bei Dir zu Hause? Zähle bitte keine Zeitschriften,
Zeitungen oder Schulbücher mit! A:
keine oder sehr wenige (0–10 Bücher); etwa ein Bücherbrett (11–25 Bücher); etwa ein Regal (26–100 Bücher); etwa 2 Regale (101–200 Bücher); 3 oder mehr Regale (mehr als 200 Bücher)
Die Antworten wurden jeweils mit Punktwerten von 0 bis maximal 4 versehen. Im Anschluss
wurden alle Punktwerte z-standardisiert und die Summe der z-Werte gebildet.
|
0,0
|
2,4
|
−10,6
|
3,2
|
−1,4
|
1,5
|
Unabhängige Variablen (Kontextmerkmale; N=138)
|
Region
|
Die Region, in der sich die Schule befindet, wird anhand von 3 dichotomen Variablen
erfasst.
|
|
|
|
|
|
|
Norden (Schulen aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bremen, NRW)
|
39,1%
|
0,5
|
0
|
1
|
0
|
1
|
Süden (Schulen aus Rheinland-Pfalz, Hessen, Saarland, Baden-Württemberg)
|
50,0%
|
0,5
|
0
|
1
|
0
|
1
|
Osten (Schulen aus Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt)
|
10,9%
|
0,3
|
0
|
1
|
0
|
0
|
Schulform
|
Auch für die Schulform wurden 3 dichotome Variablen gebildet.
|
|
|
|
|
|
|
Gymnasien
|
45,7%
|
0,5
|
0
|
1
|
0
|
1
|
Gesamtschulen (beinhaltet sowohl kooperative als auch integrierte Gesamtschulen)
|
24,6%
|
0,4
|
0
|
1
|
0
|
1
|
Sonstige Schulformen (z. B. Haupt- und Realschulen, Oberschulen)
|
29,7%
|
0,5
|
0
|
1
|
0
|
1
|
Großstadtschule
|
Schulen, die sich in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern befinden, wurden mit
dem Wert 1 kodiert.
|
21,7%
|
0,4
|
0
|
1
|
0
|
1
|
mittlere Expositionszeit
|
Die Angaben von Schülerinnen und Schülern zur Expositionszeit, die derselben Schule
angehören, wurden aggregiert.
|
30,8
|
2,2
|
26,7
|
35,8
|
29,1
|
32,4
|
mittlere sportliche Aktivität
|
Die Angaben von Schülerinnen und Schülern zur sportlichen Aktivität, die derselben
Schule angehören, wurden aggregiert.
|
6,7
|
1,2
|
3
|
10
|
5,9
|
7,5
|
Unabhängige Variablen (Kontextmerkmale, Fortsetzung)
|
Merkmal
|
Konstruktion
|
x/p
|
sd
|
min
|
max
|
p(25)
|
p(75)
|
mittlere Zustandsbe-wertung
|
F: Und wenn Du an Deine Schule denkst, wie sehr stimmen da die folgenden Aussagen? Unsere
Schule ist insgesamt in einem guten Zustand A:
stimmt überhaupt nicht zu; stimmt eher nicht zu; teils/teils; stimmt ziemlich; stimmt
genau
Die Antworten wurden auf einen Wertebereich von 0 (stimmt überhaupt nicht) bis 4 (stimmt
genau) rekodiert. Anschließend wurden die Angaben von Schülerinnen und Schülern zum
schulischen Zustand, die derselben Schule angehören, aggregiert.
|
3,0
|
0,3
|
1,9
|
3,8
|
2,8
|
3,2
|
Anteil an Kindern mit häufiger Mobbingerfahrung
|
Diese Variable repräsentiert den Anteil an Schülerinnen und Schülern derselben Schule,
die angegeben haben, 2- bis 3-mal im Monat oder häufiger gemobbt worden zu sein.
|
13,3%
|
0,1
|
0,0%
|
44,4%
|
7,4%
|
16,7%
|
Anteil an Jungen
|
Diese Variable repräsentiert den Anteil an männlichen Schulkindern in den teilnehmenden
Schulen.
|
47,2%
|
0,1
|
0,0%
|
100%
|
41,7%
|
53,1%
|
Anteil an Kindern mit Migrations-hintergrund
|
Diese Variable repräsentiert den Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund
in den teilnehmenden Schulen.
|
29,1%
|
0,2
|
0,0%
|
84,6%
|
15,4%
|
38,7%
|
Prinzipiell können in den Daten der GUS-Studie 3 Ebenen unterschieden werden: Die
Schüler/innen
(Ebene 1) sind eingebettet in Schulklassen (Ebene 2), die wiederum im Kontext Schule (Ebene 3) aufgehen. Bei näherer Betrachtung der Daten im Rahmen sogenannter Varianz-Komponenten-Modelle
zeigt sich jedoch, dass es zur Analyse des Verletzungsgeschehens auf dem Schulhof
ausreicht, nur die Schulen als Kontexte zu berücksichtigen. Bei anderen Verletzungen
im Schulkontext, bspw. bei Verletzungen im Schulsport, ist jedoch die Berücksichtigung
des Klassenkontexts geboten, während auf den übergeordneten Kontext Schule verzichtet
werden kann.
Ergebnisse
Das erste Modell in [Tab. 2] entspricht dem bereits angesprochenen Varianz-Komponenten-Modell, d. h. einem Mehrebenenmodell
ohne Kovariaten, das lediglich Auskunft über die Konstante und deren Variation auf
Kontextebene gibt.
Tab. 2 Der Einfluss von Individual- und Kontextmerkmalen auf erlittene Verletzungen auf
dem Schulhof.
|
Modell 1
|
Modell 2
|
Modell 3
|
|
b
|
se
|
p
|
OR (95% CI)
|
b
|
se
|
p
|
OR (95% CI)
|
b
|
se
|
p
|
OR (95% CI)
|
fixierte Individualmerkmale
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Expositionszeit in der Schule
|
|
|
|
|
0,058
|
0,015
|
***
|
1,06 [1,03–1,09]
|
0,032
|
0,017
|
|
1,03 [1,00–1,07]
|
Sport in Verein und Freizeit
|
|
|
|
|
0,023
|
0,010
|
*
|
1,02 [1,00–1,04]
|
0,027
|
0,010
|
**
|
1,03 [1,01–1,05]
|
Schlafstörungen
|
|
|
|
|
0,067
|
0,022
|
**
|
1,07 [1,02–1,12]
|
0,068
|
0,022
|
**
|
1,07 [1,02–1,12]
|
Risikobereitschaft
|
|
|
|
|
0,043
|
0,130
|
|
1,04 [1,00–1,09]
|
0,041
|
0,022
|
|
1,04 [1,00–1,09]
|
Mobbing
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
keine Mobbingerfahrung
|
|
|
|
|
Referenzkategorie
|
Referenzkategorie
|
seltene Mobbingerfahrung
|
|
|
|
|
0,261
|
0,130
|
*
|
1,30 [1,01–1,67]
|
0,236
|
0,130
|
|
1,27 [0,98–1,63]
|
häufige Mobbingerfahrung
|
|
|
|
|
0,558
|
0,138
|
***
|
1,75 [1,33–2,29]
|
0,520
|
0,140
|
***
|
1,68 [1,28–2,21]
|
(männliches) Geschlecht
|
|
|
|
|
0,640
|
0,105
|
***
|
1,90 [1,54–2,33]
|
0,635
|
0,107
|
***
|
1,89 [1,53–2,33]
|
Migrationshintergrund
|
|
|
|
|
0,106
|
0,116
|
|
1,11 [0,89–1,39]
|
0,095
|
0,120
|
|
1,10 [0,87–1,39]
|
materielle Ausstattung des Haushalts
|
|
|
|
|
0,015
|
0,022
|
|
1,02 [0,97–1,06]
|
0,032
|
0,023
|
|
1,03 [0,99–1,08]
|
Kontextmerkmale
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Region
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Osten
|
|
|
|
|
|
|
|
|
− 0,334
|
0,273
|
|
0,72 [0,42–1,22]
|
Norden
|
|
|
|
|
|
|
|
|
− 0,019
|
0,124
|
|
0,98 [0,77–1,25]
|
Süden
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Referenzkategorie
|
Schulform
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
sonstige Schulformen
|
|
|
|
|
|
|
|
|
0,008
|
0,170
|
|
1,01 [0,72–1,41]
|
Gesamtschule
|
|
|
|
|
|
|
|
|
0,079
|
0,157
|
|
1,08 [0,80–1,47]
|
Gymnasium
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Referenzkategorie
|
Großstadtschule
|
|
|
|
|
|
|
|
|
− 0,159
|
0,154
|
|
0,85 [0,63–1,15]
|
mittlere Expositionszeit
|
|
|
|
|
|
|
|
|
0,101
|
0,033
|
**
|
1,11 [1,04–1,18]
|
mittlere sportliche Aktivität
|
|
|
|
|
|
|
|
|
− 0,172
|
0,065
|
**
|
0,84 [0,74–0,96]
|
mittlere Zustandsbewertung
|
|
|
|
|
|
|
|
|
− 0,506
|
0,183
|
**
|
0,60 [0,42–0,86]
|
Kinder mit hoher Mobbingerfahrung (in %)
|
|
|
|
|
|
|
|
|
0,040
|
0,927
|
|
1,04 [0,17–6,40]
|
Jungenanteil (in %)
|
|
|
|
|
|
|
|
|
0,081
|
0,556
|
|
1,08 [0,36–3,22]
|
Kinder mit Migrationshintergrund (in %)
|
|
|
|
|
|
|
|
|
0,008
|
0,469
|
|
1,01 [0,40–2,53]
|
Konstante
|
−2,83
|
0,067
|
|
|
−3,38
|
0,092
|
|
|
−3,27
|
0,150
|
|
|
Random effects
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Varianz der Konstanten (SE)
|
0,186
|
0,071
|
***
|
|
0,121
|
0,061
|
**
|
|
0,004
|
0,005
|
|
|
* p <0,05 ** p<0,01 *** p<0,001
Die darin ausgewiesene Varianz der Konstanten zeigt an, wie stark die Verletzungsquoten
auf dem Schulhof zwischen den teilnehmenden Schulen streuen und kann dazu genutzt
werden, den Varianzanteil von Verletzungen auf dem Schulhof, der auf die Ebene der
Schule entfällt, zu berechnen. Der sogenannte Variance-Partition-Koeffizient (VPC)
beläuft sich auf 5,3% (95%-Konfidenzintervall: 2,6–10,7%).[5] Somit sind Unterschiede in der Verletzungshäufigkeit von Schüler/innen auf dem Schulhof
zwar in weiten Teilen auf Individualmerkmale zurückzuführen, jedoch spielt auch der
Kontext Schule eine Rolle.
In Modell 2 sind nun zunächst ausschließlich Individualmerkmale als Prädiktoren des
Verletzungsgeschehens auf dem Schulhof integriert. Dabei wurden diskrete Merkmale
zentriert, um eine sinnvolle Interpretation der Konstanten zu ermöglichen. Die Effektstärken
sind zusätzlich anhand der Odds-Ratios ausgewiesen. Können diese bei dichotomen Merkmalen
direkt miteinander verglichen werden, so ist dies bei diskreten Merkmalen nicht möglich.[6] Da in [Tab. 1] jedoch sowohl die Minima und Maxima als auch die Werte des 25. und 75. Perzentils
ausgewiesen sind, können diese dazu genutzt werden, vergleichbare Odds-Ratios zu kalkulieren.
Positive Effekte auf die logarithmierten Odds von Verletzungen auf dem Schulhof gehen
von der Expositionszeit in der Schule, der sportlichen Aktivität in Verein und Freizeit
sowie von der Prävalenz von Schlafstörungen aus.[7] Kinder, die in den vergangenen 12 Monaten häufig gemobbt wurden, weisen ebenfalls
eine höhere logarithmierte Chance auf, sich (mind.) eine Verletzung auf dem Schulhof
zugezogen zu haben, als Kinder ohne Mobbingerfahrungen. Während sich weiterhin Jungen
weitaus häufiger auf dem Schulhof verletzen als Mädchen, gehen von der materiellen
Ausstattung des elterlichen Haushalts und vom Migrationshintergrund keine Effekte
auf das Verletzungsgeschehen auf dem Schulhof aus. Gleiches gilt auch für das individuelle
Risikoverhalten, dessen Einfluss allerdings die Grenze zu einer Vertrauenswahrscheinlichkeit
von 95% nur knapp verfehlt.
Schließlich wird aus Modell 2 ersichtlich, dass sich die Varianz auf Kontextebene,
vermutlich aufgrund von Kompositionseffekten, zwar verringert hat, das Gros der Varianz
jedoch bestehen bleibt. Daher werden im dritten Modell nun zusätzlich Merkmale der
Schule als Prädiktoren integriert.
Hier wird zunächst deutlich, dass weder die Region noch die Schulform einen signifikanten
Einfluss auf die Zielvariable ausüben. Auch vom Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund,
vom Jungenanteil und vom Anteil an Schulkindern, die häufig gemobbt werden, gehen
keine zusätzlichen, d. h. über die Individual- und Kompositionseffekte dieser Merkmale
hinausgehenden Einflüsse auf Verletzungen auf dem Schulhof aus.
Bei der Expositionszeit und der sportlichen Aktivität sind solche Effekte der Kontextvariablen
jedoch deutlich zu erkennen. Dabei absorbiert die Expositionszeit auf Kontextebene
den in Modell 2 deutlich stärker ausgeprägten Individualeffekt weitgehend. Gegenläufige
Effekte zeigen sich bei der sportlichen Aktivität in Freizeit und Verein: Erhöht eine
stärkere individuelle sportliche Betätigung die Wahrscheinlichkeit, von Verletzungen
auf dem Schulhof betroffen zu sein, so ist der Effekt der Kontextvariable negativ.
Die naheliegende Interpretation, wonach sich die individuelle sportliche Aktivität
nur dann in einer höheren Verletzungsgefahr niederschlägt, wenn im Umfeld nur wenig
Sport getrieben wird, scheidet jedoch aus, da eine sogenannte Cross-Level-Interaktion
beider Sportvariablen nicht existiert.[8] Somit wirken beide Variablen unabhängig voneinander.
Schließlich erweist sich die mittlere Bewertung des schulischen Zustands durch die
Schüler/innen derselben Schule als ein signifikanter Prädiktor des Verletzungsgeschehens
auf dem Schulhof. Schulkinder, die an Schulen unterrichtet werden, deren Zustand im
Mittel besser eingeschätzt wird, weisen demnach eine geringere Chance auf, Verletzungen
auf dem Schulhof zu erleiden.
Nach der Integration der Kontextmerkmale hat sich die verbleibende Varianz auf der
Ebene der Schule nochmals deutlich verringert und fällt nunmehr so gering aus, dass
sie nicht mehr signifikant von null verschieden ist. Zugleich ist Modell 3 dem Modell,
das ausschließlich Individualmerkmale enthielt, hinsichtlich der Anpassung an die
vorliegenden Daten signifikant überlegen. Ferner spricht für die Güte des vollständigen
Modells 3, dass auf seiner Grundlage Wahrscheinlichkeiten für Verletzungen auf dem
Schulhof kalkuliert werden, die sich zwischen einem und 42% bewegen. Auf der anderen
Seite fällt die Streuung dieser geschätzten Wahrscheinlichkeiten im Schwerpunkt der
Daten mit 3,2 (25. Perzentil) und 7,1% (75. Perzentil) nicht besonders hoch aus. Dies
deutet darauf hin, dass es noch andere gewichtige Faktoren gibt, die für die Erklärung
von Verletzungen auf dem Schulhof verantwortlich sind.
Diskussion
Auf Basis der vorliegenden Modelle konnten einige einflussreiche Risikofaktoren für
Verletzungen auf dem Schulhof identifiziert werden. So weisen Jungen ein höheres Verletzungsrisiko
auf als Mädchen. Zudem verletzen sich besonders Kinder, die häufig gemobbt werden,
sportlich aktiv sind und/oder unter Schlafstörungen leiden häufiger.
Betrachtet man die Ergebnisse anderer Studien, so zeigt sich ein uneinheitliches Bild.
Während Mattila et al. [3] ebenfalls ein erhöhtes (allgemeines) Verletzungsrisiko bei Kindern mit höherer sportlicher
Aktivität berichten, spielt sportliche Betätigung bei Gofin et al. [5] keine Rolle für die Prävalenz von Schulunfällen. In einem nationalen Forschungsprojekt
[12] zeigt sich gar ein selteneres Auftreten von Schulunfällen unter sportlich aktiven
Kindern. Birken und MacArthur [18] berichten Effekte des sozioökonomischen Status und Kahl et al. [19] weisen einen Einfluss des Migrationshintergrunds auf das Verletzungsgeschehen nach.
In der vorliegenden Untersuchung zeigen sich jedoch keine Effekte dieser beiden Merkmale.
In Bezug auf die übrigen Individualmerkmale ist die Befundlage hingegen eindeutiger:
Demnach verletzen sich Jungen häufiger in der Schule als Mädchen [12]
[13]
[14]
[15]
[16]. Chau [14] bestätigt zudem, dass Schlafstörungen die Gefahr allgemeiner Verletzungen erhöhen
während Beck et al. [17] zu dem Schluss kommen, dass Kinder mit Mobbingerfahrungen häufiger allgemeine Verletzungen
erleiden.
Auf Kontextebene ist neben der Expositionszeit v. a. der schulische Zustand für das
Verletzungsaufkommen auf dem Schulhof relevant. Regionale Unterschiede oder Effekte
der Schulform konnten hingegen nicht nachgewiesen werden. Mit Blick auf die Schulform
deckt sich dieser Befund mit Ergebnissen aus anderen Studien [12]
[20], während regionale Unterschiede bei Verletzungen im Kindesalter an anderer Stelle
sehr wohl vorzufinden sind [3]
[22].
Neben der Darlegung konkreter Wirkungszusammenhänge möchte der vorliegende Beitrag
auch dafür sensibilisieren, die verschiedenen Verletzungsorte im Kontext Schule differenziert
zu betrachten.[9] Mädchen verletzen sich bspw. häufiger im Schulsport, während Jungen häufiger Verletzungen
auf dem Schulhof erleiden (vgl. auch [12]
[21]). Obgleich der Schulhof beim Verletzungsaufkommen eine große Rolle spielt, wurde
er bisher (im Gegensatz etwa zum Schulsport [23]–[24]) nur unzureichend in den Blick genommen. Hier bessert der vorliegende Beitrag nach.
Einschränkend muss erwähnt werden, dass die vorliegenden Modelle nur begrenzt in der
Lage sind, das Verletzungsgeschehen auf dem Schulhof abschließend zu erklären. Möglicherweise
gibt es noch weitere Erklärungsvariablen, die hier nicht berücksichtigt werden konnten.
Entsprechend ist für die kommenden Erhebungswellen vorgesehen, das Verhalten der Schüler/innen
während der Pause konkreter abzufragen. Da Verletzungen in vielen Fällen aber auch
das Ergebnis von Pech und Zufall sein dürften, erscheint die insgesamt zu erklärende
Variation jedoch generell begrenzt zu sein.
Limitationen der Studie ergeben sich auch aus dem Umstand, dass es sich mit Blick
auf Verletzungen um selbstberichtete Daten mit einem langen Rückerinnerungszeitraum
von 12 Monaten handelt. Dies legt eine gewisse Unschärfe der Angaben nahe. Des Weiteren
umfasst die Stichprobe lediglich 138 verschiedene Schulen, was eine Einschränkung
der Möglichkeiten bedeutet, Kontexteffekte erschöpfend zu modellieren.
Nichtsdestotrotz macht die Untersuchung deutlich, dass wirksame Präventionsstrategien
von Verletzungen sowohl individuelle als auch kontextuelle Faktoren berücksichtigen
müssen, so z. B. Mobbingstrukturen in der Schule oder den schulischen Zustand. Womöglich
ergeben sich weitere wertvolle Hinweisen, wenn in den kommenden Jahren das volle Potenzial
des Panelcharakters der Studie ausgeschöpft werden kann.